Warum die Auffassung, die viele Menschen vom Leben von Wildtieren haben, falsch ist

3 Oct 2019

In den letzten Jahren wurde dem Leben von Wildtieren immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt, was wahrscheinlich auch mit beeindruckenden Fotos und Videos von Wildtieren, die online verfügbar sind, sowie Dokumentationen über diese zu tun hat. Menschen wollen zunehmend wissen, wie sie dazu beitragen können, nichtmenschliche Tiere vor Schäden und vor Leid zu schützen – egal, ob Letztere von Menschen verursacht worden sind oder nicht.

Trotzdem haben viele Menschen immer noch eine unrealistisch optimistische Sicht auf Wildtiere, die – so wird angenommen – ein gutes Leben in freier Wildbahn führen, in der das Glück, das sie genießen, das Leiden überwiegt, das sie ertragen. Einer der Hauptgründe für diese Ansicht ist, dass die meisten Menschen kein zutreffendes Bild der in freier Wildbahn lebenden nichtmenschlichen Tiere und ihrer relativen Popluationsgrößen haben. Wenn man an Wildtiere denkt, denkt man normalerweise an große exotische Tiere, meist an Säugetiere und manchmal auch an Vögel, die für wild lebende nichtmenschliche Tiere eigentlich überhaupt nicht repräsentativ sind.

Ein völlig unrepräsentatives Bild von nichtmenschlichen Tieren

Emotional aufgeladene Bilder gepaart mit überzeugenden Erzählungen über Wildtiere tragen dazu bei, diese verzerrte Sicht auf Wildtierpopulationen zu erzeugen und zu verbreiten. Vor einiger Zeit führte National Geographic,1 eine Zeitschrift, die allgemein als maßgeblich für die Darstellung der natürlichen Welt angesehen wird, eine Untersuchung jener Tiere durch, die in den letzten 55 Jahren auf den Deckblättern abgebildet wurden. 153 der 665 illustrierten Umschläge zeigten nichtmenschliche Tiere. Interessant ist hier, welche Tiere vorgestellt wurden. Die Absicht des Magazins bei der Auswahl der Tiere für ihre Titelbilder war es, jene Tiere darzustellen, von denen ihre Geschichten handelten, oder diejenigen, die die Geschichten symbolisierten, die sie erzählen wollten. Ihre Absicht war es nicht, Tiere so darzustellen, dass sie für ihre jeweilige Population repräsentativ sind. Die nichtmenschlichen Tiere, die Menschen als Naturdarstellungen sehen, werden jedoch tendenziell als die für die Natur repräsentativen Tiere angesehen.

Die folgende Grafik von National Geographic illustriert dies:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Um festzustellen, inwieweit die Anzahl der Tiere in der Grafik von der tatsächlichen Anzahl der auf der Erde lebenden Tiere abweicht, beachten Sie die folgenden Schätzungen der Gesamtzahl der Wildtierarten:2

Vögel: zwischen 6 x 1010 und 4 x 1011

Säugetiere: zwischen 1011 und 1012

Reptilien: zwischen 1012 und 1013

Amphibien: zwischen 1012 und 1013

Fische: mehr als 1013

Insekten: zwischen 1018 und 1019

Andere Gliederfüßer: zwischen 1018 und 1021

Andere wirbellose Tiere: über 1022

Die Grafik des Magazins zeigt, dass wirbellose Tiere (7 Insekten und 2 Weichtiere) lediglich auf 9 Titelseiten abgebildet sind. Das sind 5,88% aller Covers, obwohl wirbellose Tiere über 99,999999% aller Wildtiere ausmachen.

Die Art und Weise, wie Tiere in der Grafik gruppiert sind, ist ebenfalls beachtenswert. In einem Artikel proklamiert National Geographic, dass “Vögel die Lotterie um die meisten Coverbilder gewonnen hätten”. Dies liegt jedoch nur daran, dass (mit Ausnahme einer Art) alle Vögel in einer Gruppe zusammengefasst sind, während die auf 92 Titelblättern abgebildeten Säugetiere in verschiedene Gruppen unterteilt sind ((Menschen)Affen, Bären, Elefanten, Löwen, Tiger usw.).

Säugetiere machen mehr als 60% der abgebildeten Tiere aus, obwohl sie weniger als 0,0000001% der Tiere auf dem Planeten ausmachen. Auf fast 20% der National Geographic-Titelblätter wurden Vögel abgebildet, obwohl sie weniger als 0,00000001% der in freier Wildbahn lebenden Tiere ausmachen.

Selbst wenn wir nur Wirbeltiere betrachten würden, wäre die wahre Zahl der in der Wildnis lebenden Tiere immer noch nicht gut repräsentiert. Unter den 144 abgebildeten Wirbeltieren waren nur 4 Reptilien, 3 Amphibien und 13 Fische, obwohl die Tiere, die zu diesen biologischen Klassifizierungen gehören, zehnmal so zahlreich wie Säugetiere und mehr als zwanzigmal so zahlreich wie Vögel vorkommen.

Die Grafik zeigt Pinguine separat an, als wären sie keine Vögel, und Haie, als wären sie keine Fische. Dies wird höchstwahrscheinlich einfach deshalb gemacht, weil diese Tiere für die Öffentlichkeit interessant sind, obwohl sie Minderheiten sind und keine separaten Kategorien darstellen. Verschiedene Arten von Katzen werden auch getrennt angezeigt, während alle Insekten in Gruppen zusammengefasst sind. Während es schätzungsweise 40 Katzenarten gibt, gibt es im Vergleich dazu mehrere Millionen Insektenarten.3

Obwohl es die Absicht des Magazins war, Tiere darzustellen, die repräsentativ für ihre Geschichten und nicht notwendigerweise für die Natur als solche sind, trägt die Auswahl der in dem Magazin dargestellten Geschichten und Tiere zu einer verzerrten Sicht auf Wildtiere und ihr Leben bei.

Warum ist Wissen über die relative Anzahl von Wildtierarten entscheidend für das Verständnis des relativen Ausmaßes an Leiden und Glück in der Wildnis?

Das Ausmaß des Leidens in der freien Wildbahn hängt von den unterschiedlichen Überlebensraten der dort lebenden nichtmenschlichen Tiere ab. National Geographic tendiert dazu, die ikonischsten Tiere zu zeigen, ohne dabei Geschichten mit weniger populären Tierarten zu priorisieren.

Da sie sich jedoch vermehren, indem sie große Würfe haben oder eine große Anzahl von Eiern legen, gehören die weniger beliebten Tiere zu den Tieren mit den niedrigsten Überlebensraten. Diese Fortpflanzungsstrategie, die traditionell als „R-Selektion“ bezeichnet wurde, wird von fast allen Tieren verfolgt.4 Zum Beispiel bringen Ratten im Laufe ihres Lebens Hunderte von Nachkommen zur Welt, Frösche können Tausende von Eiern legen, und auch Fische bringen Millionen von Eiern hervor. Im Durchschnitt überlebt jedoch nur ein Nachkomme pro Elternteil. Die anderen sterben, viele von ihnen auf schmerzhafte Weise, wenn sie bereits völlig empfindungsfähig sind (z. B. indem sie verhungern oder von anderen Tieren getötet werden). Dies bedeutet, dass die überwiegende Mehrheit der Individuen, die auf die Welt kommen, ein sehr kurzes Leben führt, in dem sie fast nur Leid erfahren. In vielen Fällen macht die Qual des Sterbens unmittelbar nach ihrem Entstehen ihr gesamtes (Er)Leben aus.

Nur eine relativ geringe Anzahl von Wildtieren (einige Säugetiere und Vögel) investiert in jedem Reproduktionszyklus Mühe in die Pflege ihres Nachwuchses, wodurch sich die Überlebenschancen des Nachwuchses deutlich erhöhen. Traditionell wurde diese Fortpflanzungsstrategie als „K-Selektion“ bezeichnet.5 Andere verfolgen eine gemischte Fortpflanzungsstrategie und haben mehrere Nachkommen, denen sie elterliche Fürsorge zukommen lassen. Wie wir jedoch gesehen haben, sind die meisten Tiere in der Natur wirbellose Tiere, von denen die meisten eine große Anzahl von Nachkommen mit geringen Überlebenschancen haben. Sogar die Mehrheit der Wirbeltiere – Fische – haben eine große Anzahl von Nachkommen. Dies gilt des Weiteren auch für Nagetiere, bei denen es sich überwiegend um Säugetiere handelt.

Es ist nicht der Fall, dass nur junge Individuen in der Natur leiden. Auch erwachsene Wildtiere leiden auch aufgrund diverser Ursachen wie z.B. extremen Wetterbedingungen, Krankheiten, Hunger und Durst sowie Unfällen und Verletzungen. Der Hauptgrund, warum Leiden Glück in der Wildnis bei weitem übersteigt, ist der geringe Anteil der Individuen, die überleben, was auf die Fortpflanzungsstrategie der meisten Tierarten zurückzuführen ist. Mehr als 99,999999999% der Tiere sind Mitglieder von Arten, die sich vermehren, indem sie eine große Anzahl von Nachkommen hervorbringen, d.h. solche, die traditionell als R-Strategen bezeichnet werden. Infolgedessen sterben die meisten kurz nachdem sie auf die Welt gekommen sind, oft auf schmerzhafte Weise.

Im Gegensatz dazu umfasst die Liste der Titelseiten von National Geographic 63 Säugetiere und 2 Vögel, die traditionell als K-selektiert eingestuft werden, 29 Säugetiere, die einer gemischten Fortpflanzungsstrategie folgen, und 30 andere Vögel mit nicht festgelegten Fortpflanzungsstrategien. Schließlich vervollständigen 4 Reptilien, 3 Amphibien, 13 Fische, 7 Insekten und 2 Weichtiere die Aufzählung, die alle eine große Menge von Nachkommen pro Reproduktionszyklus hervorbringen, die Auswahl.

Warum ist das ein Problem? Ein verzerrter Blick auf die Populationen der in der Wildnis lebenden nichtmenschlichen Tiere zeigt sich in mangelnder Besorgnis über ihr Leiden sowie mangelndem Interesse daran, Wege zu finden, um ihnen zu helfen. Diese nicht zutreffende Auffassung ist nachteilig für nichtmenschliche Tiere, da sie zu der fälschlichen Annahme beiträgt, dass Wildtiere zumeist ein gutes Leben führen.

Diese allgemeine Annahme wird verstärkt und aufrechterhalten, wenn die in populärwissenschaftlichen Zeitschriften wie National Geographic am häufigsten vertretenen Tiere nicht die am häufigsten vorkommenden Tiere widerspiegeln. Sie können helfen, indem Sie sich und andere über tatsächlich vorkommende Wildtierpopulationen und deren Lebensrealitäten informieren. Falls Sie bei/mit Wissenschaftsmagazinen oder Medien arbeiten oder interagieren, und/oder, indem Sie Leserbriefe an Redakteur*innen schreiben, können Sie diese ermutigen, der fast unbeachteten Mehrheit der Tiere mehr Aufmerksamkeit zu schenken und diese darauf hinweisen, dass die Natur für diese unbeachtete Mehrheit kein idyllischer Ort ist.


Fußnoten

1 Newman, C. (2014) „Graphic: What animals appear most on National Geographic’s covers?“, National Geographic, 31. Dezember [aufgerufen am 2. Januar 2017].

2 National Museum of Natural History & Smithsonian Institution (ca. 2008) „Numbers of insects (species and individuals)“, Encyclopedia Smithsonian [aufgerufen am 5. Januar 2015]. Tomasik, B. (2009) „How many wild animals are there?“, Essays on Reducing Suffering [aufgerufen am 15. Dezember 2016]. Tomasik, B. (2012) „One trillion fish“, Essays on Reducing Suffering [aufgerufen am 5. Januar 2015].

3 Gaston, K. J. (1991) „The magnitude of global insect species richness“, Conservation Biology, 5, pp. 183-196. Chapman, A. D. (2009) Numbers of living species in Australia and the World, 2nd ed., Toowoomba: Australian Biodiversity Information Services [aufgerufen am 6. Januar 2017]. Hamilton, A. J.; Basset, Y.; Benke, K. K.; Grimbacher, P. S.; Miller, S. E.; Novotný, V.; Allan Samuelson, G. A.; Stork, N. E.; Weiblen, G. D. & Yen, J. D. L. (2010) „Quantifying uncertainty in estimation of tropical arthropod species richness“, The American Naturalist, 176, pp. 90-95. Mora, C.; Tittensor, D. P.; Adlf, S.; Simpson, A. G. & Worm, B. (2011) „How many species are there on Earth and in the ocean?“, PLOS Biology, 9 (8) [aufgerufen am 6. Januar 2017].

4 Gould, S. J. (1982) „Nonmoral nature”, Natural History, 91, pp. 19-26. Sagoff, M. (1984) „Animal liberation and environmental ethics: Bad marriage, quick divorce“, Osgoode Hall Law Journal, 22, pp. 297-307 [aufgerufen am 6. Januar 2017]. Ng, Y.-K. (1995) „Towards welfare biology: Evolutionary economics of animal consciousness and suffering“, Biology and Philosophy, 10, pp. 255-285. Clarke, M. & Ng, Y.-K. (2006) „Population dynamics and animal welfare: Issues raised by the culling of kangaroos in Puckapunyal“, Social Choice and Welfare, 27, pp. 407-422. Horta, O. (2010) „Debunking the idyllic view of natural processes: Population dynamics and suffering in the wild“, Télos, 17 (1), pp. 73-88 [aufgerufen am 5. Januar 2017]; (2015) „The problem of evil in nature: Evolutionary bases of the prevalence of disvalue“, Relations: Beyond Anthropocentrism, 3, pp. 17-32 [aufgerufen am 6. November 2015].

5 Der Grund, warum diese Begriffe nicht mehr verwendet werden, ist, dass sie normalerweise nicht nur die Information beinhalten, ob bestimmte lebende Organismen sich mit einer großen oder kleinen Anzahl von Nachkommen vermehren, sondern auch andere Merkmale ihrer Lebensgeschichte miteinschließen, z. B. wie alt sie sind, wenn sie sich fortpflanzen, wie lange sie leben, usw. Einige dieser Eigenschaften stellten sich später als nichtzutreffend heraus. Vgl. dazu z.B. Pianka, E. R. (1970) „On r– and K-selection“, The American Naturalist, 104, pp. 592-597; Pianka, E. R. (1972) „r and K selection or b and d selection?“, The American Naturalist, 106, pp. 581-588 [aufgerufen am 11. Dezember 2013]; Parry, G. D. (1981) „The meanings of r- and K- selection“, Oecologia, 48, pp. 260-264 [aufgerufen am 15. Februar 2013]; Boyce, M. S. (1984) „Restitution of r- and K–selection as a model of density-dependent natural selection“, Annual Review of Ecology and Systematics, 15, pp. 427-447 [aufgerufen am 15. Februar 2014]; Stearns, S. C. (1992) The evolution of life histories, Oxford: Oxford University Press. Vgl. weiters: Reznick, D.; Bryant, M. J. & Bashey, F. (2002) „r-and K-selection revisited: The role of population regulation in life-history evolution“, Ecology, 83, pp. 1509-1520.