Vertragstheorien zufolge sollten diejenigen moralischen und politischen Grundsätze gelten, die im Rahmen eines hypothetischen Vertrags festgelegt werden. Vertragstheoretiker gehen hierbei häufig von Szenarien aus, in denen diese Grundsätze nicht von Beginn an feststehen, sondern erst erarbeitet werden müssen. Die Prinzipien, dir wir in diesen Szenarien akzeptieren würden, sind laut Vertragstheoretiker*innen gerade die, die wir auch in der realen Welt akzeptieren sollten.
Im 17. Jahrhundert argumentierte Thomas Hobbes, dass wir uns ohne politische Herrschaftsverhältnisse in einem Naturzustand befinden würden, in dem unsere Leben unablässig bedroht würden. Ein solcher Naturzustand führt laut Hobbes dazu, dass wir uns für ein politisches System entscheiden würden, das uns schützt1 und das von rational Handelnden durch einen hypothetischen Vertrag festgelegt würde. Geschehe dies nicht, trete eine Situation ein, in der alle Menschen ihren Mitmenschen Leid zufügen würden. Der entscheidende Faktor in diesem Szenario ist Macht. Rational Handelnde haben die Macht, anderen zu schaden und können sich gemeinsam (und zur eigenen Sicherheit) dafür entscheiden, darauf zu verzichten.
Zeitgenössische Vertragstheoretiker*innen verfolgen einen anderen Ansatz. Ebenso wie Hobbes gehen auch sie davon aus, dass ein Gesellschaftsvertrag eine legitime Möglichkeit darstellt, Normen zu definieren. Im Gegensatz zu Hobbes werden diese Normen allerdings unter anderen Umständen als legitim bewertet. Anerkannt würden diese Normen zeitgenössischen Vertragstheoretiker*innen zufolge erst dann, wenn wir diese unter dem Aspekt der Gerechtigkeit aushandeln, was Unvoreingenommenheit voraussetzt. John Rawls hat beispielsweise ein Szenario vorgestellt, in dem gesellschaftliche Normen ausgehandelt werden müssen, obwohl den Beteiligten unter anderem nicht klar wäre, welche Rolle diese in einer solchen Gesellschaft einnehmen, über welche physische Konstitution sie verfügen oder welcher Ethnie sie angehören würden. Rawls geht davon aus, dass die in dieser Situation ausgehandelten Normen legitim wären, da alle Beteiligten unvoreingenommen wären.2 Thomas Scanlon vertritt des Weiteren die Auffassung, dass wir uns nur auf Normen festlegen sollten, die aus rationalen Argumenten hervorgehen und deswegen nicht abgelehnt werden können.3
Einige Vertragstheoretiker*innen, wie z.B. Peter Carruthers, sind der Ansicht, dass nur jene, die zu rationalen Überlegungen – die notwendig sind, um sich als Vertragspartei zu begreifen – fähig sind, von einem solchen Vertrag profitieren können, und dass daher nur rational Handelnde von einer Vertragstheorie geschützt werden können.4 Eine Vertragstheorie setzt rationales Handeln jedoch nicht unbedingt voraus. Vertragsparteien haben nämlich die Möglichkeit, auch andere zu schützen. Wie wir gesehen haben, gibt es gute Gründe dafür, dass wir dies im Fall nichtmenschlicher Tiere tun sollten. Des Weiteren wäre ein Ansatz, wie ihn Carruthers vorschlägt, nur dann vertretbar, wenn wir gleichzeitig auch eine Vertragstheorie wie etwa die von Hobbes akzeptieren würden, bei der Gerechtigkeit keine Rolle spielt. Wenn wir hingegen den Ansatz zeitgenössischer Vertragstheoretiker*innen verfolgen, dann wäre auch eine Position, der zufolge nur rational handelnde oder besonders machtvolle Individuen beschützt werden könnten, nicht akzeptabel. Notwendig wäre unvoreingenommene Entscheidung darüber, ob eine Norm vertretbar ist oder nicht. Eine solche Norm wäre legitim, wenn wir sie von einem unvoreingenommenen Standpunkt aus akzeptieren würden, also ohne jegliches Wissen darüber, was unser eigener Zustand wäre.
Es käme jedoch einer willkürlichen Annahme gleich, zu denken, dass eine solche unvoreingenommene Sichtweise nur auf menschliche Lebewesen angewandt werden könnte. Von tatsächlicher Unvoreingenommenheit lässt sich nur dann sprechen, wenn wir die Auswirkungen auf alle empfindungsfähigen (bewussten) Lebewesen in unsere Überlegungen einbeziehen. Wenn wir nicht wüssten, welche Art von empfindungsfähigem Lebewesen wir sein würden, beispielsweise ob wir ein Mensch oder eine Kuh wären, würden wir sicherlich die speziesistische Diskriminierung ablehnen, unter der nichtmenschliche Tiere zurzeit leiden. Dieser Aspekt wurde von Donald VanDeVeer in den 1970er-Jahren aufgezeigt5 und insbesondere vom Vertragstheoretiker Mark Rowlands noch weiter vertieft.6
Aus den vorangegangen Erläuterungen können wir schließen, dass sich mit gegenwärtigen Vertragstheorien (ebenso wie mit anderen ethischen Theorien) nicht rechtfertigen lässt, dass nichtmenschliche Tiere aus moralischen Überlegungen ausgeschlossen werden, und dass diese Vertragstheorien im Widerspruch zum Speziesismus stehen. Wie im Fall von Peter Carruthers deutlich geworden ist, gibt es speziesistische Positionen, die mithilfe von Vertragstheorien gerechtfertigt wurden. Vertragstheoretiker müssen derartige Ansätze, die auf älteren Vertragstheorien (wie jener von Hobbes) basieren, und heutzutage von den meisten Menschen abgelehnt werden, jedoch auch nicht akzeptieren.
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1 Hobbes, T. (2004 [1651]) Leviathan. Materie, Form und Macht eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens, Hamburg: Meiner.
2 Rawls, J. (2013 [1971]) Eine Theorie der Gerechtigkeit, Auflage: 3., bearb. Auflage, Berlin: De Gruyter.
3 Scanlon, T. (1998) What we owe to each other, Cambridge: Belknap Press of Harvard University Press.
4 Carruthers, P. (1992) The animal issue: Moral theory in practice, Cambridge: Cambridge University Press.
5 VanDeVeer, D. (1979) „On beasts, persons and the original position“, The Monist, 62, pp. 368-377.
6 Rowlands, M. (2009 [1998]) Animal rights: Moral, theory and practice, 2nd rev. ed., New York: Palgrave Macmillan.